Durch Migration und mitgebrachte Erfahrungen und kulturell verwurzelte Rituale ist weibliche Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation, FGM) auch in Deutschland ein Thema. Hier leben schätzungsweise gut über 100.000 Mädchen und Frauen, die von verschiedenen Formen der Genitalverstümmelung betroffen sind. FGM beinhaltet sowohl die Beschneidung (Entfernung von Teilen oder der gesamten Klitoris und/oder Schamlippen) als auch das Zunähen der Vagina, um diese zu verengen, was als Infibulation bezeichnet wird (1). Die genitale Verstümmelung ist eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte und zählt zu den geschlechtsspezifischen Verfolgungsgründen (2). FGM kann vielfältige akute medizinische Probleme verursachen und insbesondere auch schwerwiegende physische und psychische Langzeitfolgen nach sich ziehen. Lebenslang ist das Risiko für gesundheitliche Probleme erhöht, insbesondere geburtsbegleitende Komplikationen sowie vielseitige Beeinträchtigung, z.B. bei gynäkologischen Untersuchungen, der Nutzung von Optionen zur Empfängnisverhütung oder dem Einsatz von Hygienemitteln (1).
Zudem bestehen Risiken, dass FGM mehrmals im Leben vorgenommen wird. „FGM ist oftmals kein einmaliges Ereignis in der Biografie der Mädchen und Frauen. Das Öffnen und die Wiederverengung der Vaginalöffnung kann sich in verschiedenen Lebenssituationen wiederholen – etwa zum Geschlechtsverkehr oder im Rahmen eines Geburtsvorgangs“, erläutert Sanitätsrat Dr. Werner Harlfinger vom BVF. „Auch Beschneidungen werden mitunter mehrmals durchgeführt.“ Jede Wiederholung von FGM ist mit zusätzlichen Risiken und Komplikationen verbunden, eine wiederholte Traumatisierung kann sowohl physische als auch psychische Folgen verstärken.
Fehlende einheitliche Handhabung – ein Missstand für die Versorgenden
Frauenärztinnen und -ärzte sind darauf spezialisiert, die komplexen geschlechtsspezifischen medizinischen Belange von Mädchen und Frauen umfassend zu beurteilen. Sie sind unmittelbar mit dem Leid und Unrecht konfrontiert, das FGM-betroffenen Mädchen und Frauen widerfahren ist und nehmen bei der Attestierung von FGM im Rahmen der asylrechtlichen Beurteilung durch das BAMF eine Schlüsselposition ein (3). „Die medizinische Begutachtung von FGM kann für die Lebensperspektive der betroffenen Frauen weichenstellend sein, allerdings sind die Auslegungen des BAMF bezüglich der Schutzbedürftigkeit hier erfahrungsgemäß unterschiedlich und folgen keinen einheitlichen Regeln. Die Tatsache, dass in vielen Fällen nur eine drohende FGM als Asylgrund anerkannt wird, nicht aber eine bereits erlittene Genitalverstümmelung, ignoriert die problematischen Folgen von FGM, ebenso wie die Gefahr für Mädchen und Frauen, im Laufe ihres Lebens erneut FGM erleben zu müssen“, betont der rheinland-pfälzische Sanitätsrat. Frauenärztinnen und Frauenärzte geraten hier in ein Dilemma, da sie bei der Erstellung von medizinischen Gutachten aufgrund von vorliegender FGM eine vorhandene Schutzwürdigkeit annehmen, die allerdings von Fall zu Fall und individuellem Sachverhalt (u.a. Heimatland, familiärer Rückhalt, Gebärfähigkeit) auch eine Basis für Abschiebungen darstellt. „Frauenärztinnen und Frauenärzte werden hier nicht länger Gutachten ausstellen, wenn dann die Attestierung einer Verstümmelung als Grund für eine Zurückweisung herangezogen wird, weil den Frauen vermeintlich kein Leid mehr droht“, kritisiert der Gynäkologe. „Wir können uns hier nicht instrumentalisieren lassen.“
Für die versorgende fachärztliche Gruppe der Frauenärztinnen und Frauenärzte, denen das Wohl und die Sicherheit ihrer Patientinnen am Herzen liegt, ist ein Zustand inakzeptabel, der keine Sicherheit bezüglich des ärztlichen Handelns und dessen Konsequenzen gewährleistet. Für die praktische Umsetzung von ärztlichen Attesten, die über die asylrechtliche Schutzbedürftigkeit von Mädchen und Frauen entscheiden, sind einheitliche Regelungen notwendig, welche die gesundheitlichen Gefahren und Risiken durch drohende und erlittene FGM anerkennen und an denen sich alle Beteiligten klar orientieren können. Der Berufsverband der Frauenärzte e.V. (BVF) fordert hier dringend mehr Transparenz und Klarheit.
Mit der „Istanbul Konvention“, als völkerrechtliches Abkommen, hat sich Deutschland rechtlich verpflichtet, umfassende Maßnahmen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen zu ergreifen und aktiv gegen Menschenrechtsverletzung vorzugehen. Sie stellt ein umfassendes rechtliches Instrument zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt im europäischen Raum dar (4). Vor diesem Hintergrund fordert der BVF, dass neben drohender FGM auch die schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen einer erlittenen FGM stärker berücksichtigt werden müssen, ebenso wie das Risiko wiederholter FGM. Notwendig sind für Frauenärztinnen und Frauenärzte ausreichende Klarheit bezüglich der asylrechtlichen Einordnung von medizinischer Begutachtung, um diese Leistung mit ihren ethischen Grundsätzen vereinbaren zu können und sie auf dieser Grundlage auch künftig weiter zur Verfügung stellen zu können.
Quellen und weitere Informationen
(1) S2k-Leitlinie zu rekonstruktiven und ästhetischen Operationen des weiblichen Genitales
(2) Asylgesetz (AsylG) § 3a Verfolgungshandlungen (§3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG, i. V. m. § 3a Abs.2 Nr. 6 AsylG)
(3) FGM_C und Culturally safe care – Überlebende von FGM_C in der gynäkologischen Sprechstunde; Gyn-Depesche 5/2024
(4) Istanbul-Konvention: Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt
(5) Weibliche Genitalverstümmelung: Alle sind dagegen, doch die Praxis sieht anders aus; FRAUENARZT, Februar/2025 (noch unveröffentlicht)